Donnerstag, 16. Juni 2011

Kurt Tucholsky und Andorra

Peter Panter - Die Republik Andorra
(erschienen 1927 in "Ein Pyrenäenbuch")

Der europäische Kleinstaat dürfte als solcher jedem bekannt sein, schwieriger vielleicht die Frage nach dem wo? Dieses Ländlein liegt, da ich mich immer noch mit dem Pyrenäenbuch befasse, eben dort. Doch populärer als der Fleck auf der Landkarte ist sicherlich immer noch das Bild des kleinen Landes das Max Frisch mit seinem Drama „Andorra“ zeichnete. Das Stück selbst ist ein viel gespieltes und in den Schulen oft behandeltes, allerdings frage ich mich, seit ich es selbst gelesen habe, was wohl die Menschen in Andorra über Max Frisch denken, der sich ihrer einfach bedient hat um Fremdenhass und Antisemitismus zu erläutern.
Da ich keinen Andorraner im meinem Bekanntenkreis habe, kann ich das nicht beantworten, aber ich wage etwas anderes... ich vermute, das die Landesbeschreibung Tucholskys ihnen sicherlich besser gefallen würde.

Die Täler sahen aus wie alle Pyrenäentäler dieser Gegend – aber als wir nach Andorra-la-Vella kamen, der Hauptstadt, da sah ich den Unterschied. Die Hauptstadt hat fünfhundert Einwohner, und diese Belegschaft eines berliner Ackerstraßenhauses verteilt sich in graubraunen, primitiv gebauten Häusern, die Feldsteine sind nicht übertüncht, sondern liegen nackt. Die Ritzen sind mit Erde verstopft.

Nicht immer schmeichelhaft, sondern so ehrlich, wie es geht, beschreibt Tucholsky dieses kleine Land und wir dürfen durch seine Augen ein wenig davon kosten.

Ich zog mit einem Führer die Nationalstraße Andorras entlang; sie ist einen Meter fünfundsiebzig breit und höckrig. Eine Fahrstraße durch das Land gibt es nicht. Die Staatspost ging mit uns und erzählte sich ellenlange Geschichten mit dem Eselstreiber; sie marschierten in gleichmäßigem Schritt, und dabei sprachen sie ununterbrochen. Ich verstand kein Wort – aber wenn sie ihre Feinde nachahmten, das verstand ich gleich. In ihrer Rede kam nach dem schreienden Diskant des Gegners der ruhige Männerton zur Geltung – das war dann der Berichterstatter selber, der gesprochen hatte, ein umsichtiger, vernünftiger Mann.

Vor allem aber stülpt er niemandem etwas über und behauptet Dinge, sondern beschreibt was er sieht und erlebt. Er vergleicht, immer wieder taucht im Text Deutschland oder Berlin auf, aber er misst nicht, wägt nicht ab... und er lässt einen lachen, über das was er erlebt und über sich selbst.

Der Briefträger und der Eselstreiber aßen mit mir zusammen Mittag – um wieviel anständiger benehmen sich oft Romanen als manchmal andere Leute! Es waren doch Bauern, aber da war nichts Schmeichlerisches und nichts Rohes – es war ein Mittagessen unter drei Gleichberechtigten, und sie hatten gute Tischmanieren und aßen appetitlich. Nur mit dem Trinken war das nicht einfach; da gab es so eine Glasflasche mit einem dünnen Rohr, das man sich eine Spanne breit vom Gesicht weghielt, und dann ergoß sich ein dünner Strahl in den Mund. Bei mir auf den Fußboden. Nachmittags legte ich mich ins Gras.

Und dann kann man lesend die Augen schließen und auch einen Moment tiefer Urlaubsstimmung empfinden.

»Jede Provinz, jeder Winkel auf der Erde gibt dem Vorüberkommenden, der keine Zeit hat, lange zu verweilen, etwas mit, was ich ein Stückchen Herz nennen möchte. Manchmal ist es ein Schritt Tanzender; ein paar Töne, vom Fels zurückgeworfen oder vom Wind getragen, ein Nichts ... irgend etwas ganz Simples ... ein Stein, das bemooste Kreuz an der Straße, ein verfallenes Grab ... und alles spricht.« So stand in einem Reiseführer durch Andorra, und das ist richtig. Was war es denn –?
Ein heißer Tag und das herrliche Gefühl, in der roten Hitze eisig kaltes Wasser aus einem blitzenden Glas zu trinken, die Müdigkeit nach dem Ritt und dann die Ruhe im Gras. Eine Stute beschnupperte mich und ging langsam weiter; ein paar Schweine kamen und brachen mit großem Gegurgel einen Kohlgarten auf, daraus verjagte sie die Bauersfrau: »Hé, Hé! Porc! Porc!« Das bezogen die Schweine auf sich und liefen eilig davon; dann schlief ich ein. Als ich aufwachte, stand die Sonne schon tiefer, und drüben, auf der andern Seite des Tales, sang eine helle Männerstimme ewig dieselben sechs traurigen Töne: d, b, g; c, as, f – Die kleine Melodie verwob sich mit dem Grillenzirpen und dem leisen Wind zu einem weichen Netz ...

Reisen mit den Augen und dem Finger auf der Landkarte... aber Vorsicht, sonst verschwindet Andorra unter dem Fingerabdruck.

Dann lässt sich Tucholsky über ein Buch aus „ Andorra oder die Männer aus Erz“ von
Isabelle Sandy, einer französischen Schriftstellerin, aus.... und meine Gedanken huschten fort aus Andorra und hin zu Max Frisch. Tucholsky hat sein Stück nie gelesen, es ist ein Nachkriegsdrama und Tucholsky ist ein Vorkriegsmahner... aber vielleicht gibt es ja etwas, was zu dem überleitet, was mich beschäftigt.

Nun, zu der Schmonzette der Madame Sandy hat er folgendes zu sagen:

»Wenn ich den Wald besinge, tue ich das deshalb, weil die Fabrik wütet ... « So Isabelle Sandy. Wo wolltest du leben? In dem muschelförmigen Tal Andorras, umgeben von Faunen und Waldgöttern? Gegen Morgen hätten sie dir eine Rechnung präsentiert:
Eine Waldorgie ... 85 Pesetas.
Herr Frisch hat solch eine Rechnung wohl nie bekommen, sie wäre sicherlich noch ein wenig höher ausgefallen. Rassismus mag aller Orten ein Problem sein, Antisemitismus ebenso, aber warum Andorra und nicht irgendein imaginärer Ort? Sicherlich ist es nicht ganz fair diese Frage zu stellen... und ich habe das Stück nicht in der Schule gelesen, aber ich weiß, das es nur eine Parabel ist... allerdings ist sie auch ziemlich simpel gestrickt, wie ich finde. Und wenn Max Frisch selbst sagte:

„Ich bin froh, daß ich [Andorra] geschrieben habe, ich bin froh, daß es sehr viel aufgeführt worden ist – ich habe nicht allzu viele Aufführungen gesehen. Es ist nicht so, daß ich es mir jetzt noch sehr gerne anschauen würde; es ist mir zu durchsichtig […]; aber dann [wenn es nicht durchsichtig wäre], wäre es vielleicht nicht mehr wirkungsvoll […] Es ist mir nicht geheimnisvoll genug für mich selber.“

„Gemeint ist natürlich nicht der wirkliche Kleinstaat dieses Namens, nicht das Völklein in den Pyrenäen, das ich nicht kenne, auch nicht ein anderer wirklicher Kleinstaat, den ich kenne [Anspielung auf die Schweiz]; Andorra ist der Name für ein Modell.“
(Quelle: Wikipedia)

… dann bleibt doch wirklich ein komischer Geschmack im Mund hängen. Mir zumindest gefällt das nicht. Ich würde nicht über Andorra schreiben, wenn ich Deutschland oder die Schweiz meine. Da bleibt zu viel Raum für Spekulation... und den Deutschlehrer, der den Finger schwingt und seinen Schülern die Allgemeingültigkeit des Stücks auf die Natur der Menschen und der Völker erläutern muss. Das könnte er auch tun, wenn die Geschichte in „Wolkenkuckucksheim“ spielen würde. Dazu wäre Andorra nicht von Nöten.

Da bleibe ich lieber bei Tucholsky und lasse mich weiterführen und verführen...

Republik Andorra ... ! Dieser Staat hat – im Gegensatz zu Hamburg – in Berlin keinen Gesandten. Wenn aber die Republik Andorra in Deutschland läge, hätte sie einen, aber dann wäre es keine Republik.
Waren die Mädchen Andorras eigentlich hübsch –? So sehr nicht, aber schließlich ... Die Andorraner brauchen nicht zu dienen – weder in Spanien noch in Frankreich. Und wenn man eine Andorranerin heiratet, dann erwirbt der Mann ihre Staatsangehörigkeit.
Ewig werde ich mich nach den Frauen dieses Landes zurücksehnen. Welcher Seelenadel! Welcher Zauber! Welches Feuer –! Und welch schöne Staatsangehörigkeit.

So weit erstmal,

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